Fotografie: Studiensammlung und Archiv

Fotografie: Studiensammlung und Archiv
Fotografie: Studiensammlung und Archiv
 
Ist die Fotografie eine Kunst? Diese Frage gehörte zu den Lieblingsthemen jeglicher Reflexion des Mediums, schon bevor die Fotografie in den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts zu einem lukrativen Objekt von Kunsthändlern, Sammlern und Auktionatoren wurde. Sie war und ist deshalb prekär, weil das erste chemophysikalische Aufzeichnungsmittel Abbildungen hervorzubringen ermöglicht, die »automatisch« ohne den Eingriff einer schöpferischen Hand entstehen. Damit unterscheidet sich die Fotografie radikal und kategorial von allen Bestimmungen dessen, was seit der Ausdifferenzierung des Systems »Kunst« gegen Ende des 18. Jahrhunderts als künstlerisch bezeichnet wurde.
 
Obwohl diese Frage erst in den Debatten über den »malerischen Effekt der Fotografie« - so der programmatische Titel eines 1869 erschienenen Buchs von Henry Peach Robinson - auftaucht, scheint sie für die Akzeptanz des neuen Abbildungsverfahrens, das erstmals Ende 1838 in Paris öffentlich bekannt gemacht wurde, grundlegend gewesen zu sein. So berichtet Gaston Tissandier 1874 in seinem Buch »Die Wunder der Fotografie« von der ersten Begegnung des Historienmalers Paul Delaroche mit einer Fotografie: Der Maler soll, so wird erzählt, Louis Jacques Mandé Daguerre die einzig durch Licht, das heißt durch die Emission von Photonen geprägte versilberte Kupferplatte mit dem Ausruf »Vom heutigen Tag an ist die Malerei tot« aus der Hand gerissen und überall herumgezeigt haben.
 
Dass Delaroche der Lehrer der »Primitiven« - so bezeichnete der berühmte Porträtfotograf und Luftschiffer Nadar die erste, schon am Ende des 19. Jahrhunderts als Künstler geschätzte Generation der Fotografen wie Gustave Le Gray, Henri Le Secq, Charles Nègre und Roger Fenton - gewesen war, mag dazu beigetragen haben, dass gerade ihm ein solcher Ausspruch in den Mund gelegt wurde. Außerdem war Delaroche Mitglied des im Juni 1839 einberufenen Expertenkomitees, das darüber entscheiden sollte, ob der französische Staat die Rechte am fotografischen Verfahren ankaufen und Daguerre sowie dem Sohn seines Partners Nicéphore Niepce eine Pension aussetzten sollte; auf der Suche nach einem Ersatzmedium für die Lithographie war es Niepce 1822 als Erstem gelungen, mit einer Camera obscura aufgenommene Gegenstände auf lichtempfindlichen Schichten zu fixieren. Das Urteil Delaroches indes unterschied sich von der ihm zugeschriebenen Aussage grundsätzlich: Er beschrieb die Fotografie nicht als Konkurrentin der Malerei, sondern als Hilfsmittel der Künste, das sich vorzüglich dafür eigne, Studiensammlungen zu bilden, weil es schnell, einfach und ohne großen Arbeitsaufwand anzufertigen sei.
 
Daguerreotypien - und später die von William Henry Fox Talbot entwickelten Calotypien - wurden bis in die Sechzigerjahre des 19. Jahrhunderts vorrangig als Negativabdruck der Natur, als Abklatsch oder Kopie der abgebildeten Gegenstände begriffen. Damit stand gar nicht zur Diskussion, dass fotografische Bilder Kunst sein könnten. Polemisch apostrophierte Charles Baudelaire in seinem Essay »Das moderne Publikum und die Fotografie« Daguerre 1859 als »Messias« industrieller, nachahmender Darstellungsweisen. Die Fotografie war für Baudelaire nur eine »sehr niedere Dienerin« der Wissenschaften und der Künste, die allenfalls alles, was wertvoll sei und zu entschwinden drohe, dem Archiv des Gedächtnisses einzuverleiben vermöge. Dieser Tenor sollte sich erst ändern, als sich - seit der klassischen Moderne und vor allem seit der Postmoderne - das Verständnis des Wesens, der Bedeutung und der Funktion der Kunst grundlegend wandelte.
 
Die chemisch-optischen Beschränkungen der Positiv-Negativ-Fotografie um 1850 - die mangelnde Lichtempfindlichkeit der Fotoemulsionen, die Tatsache, dass Papier als Träger von Negativ und Positiv diente, die Lichtschwäche der Objektive - ließen fotografische Bilder auch in den Augen des Malers Eugène Delacroix einförmig erscheinen. Delacroix beklagte die Seelenlosigkeit der Fotografie, in der er vor allem ein Kopierverfahren sah: Spreche in der Malerei die Seele zur Seele, dann spreche in der Fotografie die Wissenschaft zur Wissenschaft. Seien in der Malerei Bildelemente nach einem vorher vom Künstler festgelegten Schema organisiert, »nehme« die Fotografie im wörtlichen Sinn Bilder auf. Stelle jedes Tafelbild eine Gesamtheit dar, bleibe die Fotografie nur Fragment. Weil aber in der Kunst Details und Ganzes von Bedeutung seien, könne die Fotografie, die keine Hierarchien zu erstellen vermöge, nicht der Domäne der Kunst zugerechnet werden. Dennoch wurde Delacroix 1851 Gründungsmitglied der ersten fotografischen Gesellschaft der Welt, der »Societé héliographique de Paris«. 1854 fertigte er zusammen mit dem Fotografen Eugène Durieu 31 Calotypien an, die ihm als Vorlagen für Zeichnungen und Gemälde dienten. So war es nicht mehr die Natur, die Delacroix als unerschöpfliches Musterbuch diente, sondern die Fotografie.
 
Obwohl die Fotografie also Eingang in die Archive der Künstler gefunden hatte und bislang unbekannte Blickwinkel darzustellen erlaubte, durch die sich sowohl die Sicht- als auch die Darstellungsweisen der Welt grundlegend veränderten, wurde sie weiterhin als seelenloses Medium betrachtet. Was auch immer auf einem fotografischen Bild zu sehen war, wurde als Kopie angesehen. Dass Fotografien ihrerseits kopiert wurden, warf erstmals die Frage nach dem künstlerischen Status der Fotografie auf. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren des 19. Jahrhunderts wollten sich die kommerziell erfolgreichen Atelierfotografen den Künstlern gleichstellen, um sich gegen geschäftsschädigende Reproduktionen ihrer Aufnahmen zu schützen. Denn nur wenn sie nachweisen konnten, dass sie bei der Herstellung fotografischer Bilder künstlerisch Hand anlegten, konnte ihr vor Gericht gebrachtes Ansinnen auf Anerkennung des Urheberrechtsschutzes Aussicht auf Erfolg haben. In dieser Debatte ergriffen akademische Maler wie Ingres, Troyon, Flandrin und Puvis de Chavannes 1862 für die großen druckgrafischen Unternehmungen Partei und setzten eine Petition in Umlauf, in der die Fotografie als geistloses maschinelles Verfahren, das keinen Anspruch auf rechtlichen Schutz habe, diffamiert wurde.
 
Kopie einer zufälligen Wirklichkeit oder Ausdruck künstlerischen Gestaltens - bis heute trifft man auf diese gegensätzlichen Sichtweisen, wenn es um die Fotografie geht. Die striktesten Befürworter der These, dass in der Fotografie die Originalität des Werkes auf der Individualität des Fotografen beruhe, waren die Piktorialisten der Jahrhundertwende. Um sicher zu gehen, dass Fotografien die Eigenart ihres Verfertigers zeigen, glichen sie ihre Fotos den ästhetischen Normen der Zeit an. In einer Unzahl von Handbüchern wurden Fotografen nun dazu angehalten, sich mit der zeitgenössischen, akademischen Kunst auseinander zusetzen. Darüber hinaus leitete man sie an, Fotografien zu verfertigen, die den Kompositionsprinzipien der Malerei entsprächen. Ihre malerischen Kunstfotos zeichnen sich dadurch aus, dass sie den Blick des Betrachters durch gezielte Bildunschärfen, durch einen bewussten Einsatz der Brennweite und durch ungewöhnliche Blickwinkel lenken. Um der Fotografie Eingang in das Pantheon der Künste zu verschaffen, wurden Negative und Abzüge so lange manipuliert, bis sie »malerisch« aussahen. Kunstdruckverfahren - der Platin-, Bromöl- und Gummidruck - verwischten die Unterschiede zwischen grafischen und fotografischen Arbeiten. Damit grenzten sich Fotografen wie Craig Annan, Edward Steichen, Gertrude Käsebier, Heinrich Kühn und Alfred Stieglitz von der kommerziellen Fotografie und der Fotoindustrie ab.
 
Das Ende der kunstfotografischen Bewegung fiel zusammen mit dem Ende des Ersten Weltkriegs. Nunmehr propagierten sowohl die federführenden Akteure des Piktorialismus wie Stieglitz, Steichen und Paul Strand als auch eine neue Generation von Fotografen eine Fotografie, die wie Fotografie aussehen sollte. Weil ihre Bilder nicht unscharf sein durften, sondern geradezu brillant sein mussten, nannte man diese Richtung »Straight photography«. Eine Ästhetik des Glatten und Glänzenden, der Oberfläche und des Fragments löste sowohl in den USA als auch in Europa die Ästhetik des Malerischen ab. Edward Weston, Albert Renger-Patzsch, Karl Blossfeldt und Aleksandr Rodtschenko propagierten eine einzig durch das Fotografische mögliche, neue Sicht auf die Welt, für die sie sich auch ungewöhnlicher Blickwinkel und Bildausschnitte bedienten.
 
Dieses »neue Sehen« - Stieglitz urteilte über Aufnahmen Strands, sie seien »brutal direkt, sauber und bar jeder Betrügerei« - kam den Bemühungen einiger Fotografen entgegen, die gesellschaftliche Wirklichkeit ihrer Zeit mit ihren Aufnahmen zu dokumentieren. 1890 veröffentlichte Jacob Riis seinen Bericht über die Lebensverhältnisse in den New Yorker Slums, 1910 begann August Sander seine groß angelegte Bestandsaufnahme »Menschen des 20. Jahrhunderts«. Eugène Atget fotografierte seine Heimatstadt Paris in all ihren Facetten, Heinrich Zille durchstreifte mit der Kamera die Straßen Berlins. In den Dreißigerjahren machten die Fotografen der »Farm Security Administration« das Elend der arbeitslosen Landarbeiter im Mittleren Westen der USA einer breiten Öffentlichkeit bewusst.
 
Die Reportagefotografie erlebte ihre Blütezeit vom Ende der Zwanzigerjahre bis zur Mitte der Fünfzigerjahre, begleitet von einer Renaissance des Porträts. Für auflagenstarke Zeitschriften wie die »Münchner Illustrierte Presse« oder »Life« schossen Erich Salomon, Alfred Eisenstaedt, André Kertész, Robert Capa, Margaret Bourke-White, Henri Cartier-Bresson und Gisèle Freund meisterhafte Aufnahmen von Menschen und ihrer Umgebung, ließen den Leser in die für ihn unerreichbare Welt der Highsociety und in ferne Länder blicken, hielten Sensationen ebenso fest wie die Schrecken der Kriege. Technische Verbesserungen - etwa die 1925 auf den Markt gebrachte Kleinbildkamera »Leica«, lichtstarke Objektive und empfindlichere Filme - halfen den berühmten Starreportern, aber auch der wachsenden Zahl der Amateurfotografen, den »entscheidenden Augenblick« einzufangen. 1955 zeigte Steichen, seit 1947 Direktor der fotografischen Abteilung des Museum of Modern Art in New York, mit der berühmten Ausstellung »Family of Man« einen repräsentativen Querschnitt durch den Bildjournalismus des »Amerikanischen Jahrhunderts«, der neun Millionen Besucher anlockte.
 
»das fotogramm, die kameralose lichtgestaltung, ist der eigentliche schlüssel zur fotografie. in ihr verkörpert sich die absolute eigenart des fotografischen verfahrens, die uns erlaubt, lichtvorgänge durch eine lichtempfindliche schicht direkt, unabhängig von jeder kamera festzuhalten.« Als László Moholy-Nagy - von ihm stammt dieses Zitat -, Christian Schad und Man Ray in den Zwanzigerjahren mit ihren Fotogrammen das Licht selbst zum »Künstler« erhoben, hatte die Fotografie Anschluss an die Kunstströmungen der Avantgarde gefunden. Kubismus, Dadaismus und Surrealismus beeinflussten die Fotomontagen von Raoul Hausmann, John Heartfield und Moholy-Nagy, die abstrakte Kunst der Nachkriegsjahre prägte die formstrenge »subjektive Fotografie« und die sich von der Darstellung der Natur lösende »generative Fotografie«. Doch auch als Medium der Dokumentation hatte die Fotografie noch nicht ausgedient: Die auf begrenzte Dauer angelegten Formen der Konzeptkunst griffen zur »Spurensicherung« auf die Fotografie zurück und gewannen erst durch sie Bestand.
 
Kurz vor der Jahrhundertwende hielten Eadweard Muybridge und Étienne-Jules Marey Bewegungsabläufe in Phasenfotografien fest. Mit diesem ersten Schritt zum »bewegten Bild« hin erwuchs der Fotografie neben der Malerei mit dem Film ein neuer Konkurrent, der ihr zudem zur Bewahrung des Vergangenen und zur Abbildung von Wirklichkeit überlegen schien. Einen noch tieferen Einschnitt markierte das Zeitalter der digitalen Bildverarbeitung: Fotografie ließ sich nun mit verhältnismäßig einfachen Mitteln beliebig überarbeiten und verändern, der »Fotograf« wurde am Bildschirm zum Bildproduzenten. Die eingangs gestellte Frage nach dem künstlerischen Stellenwert der Fotografie scheint damit am Ende des 20. Jahrhunderts beantwortet zu sein: Die »Fotografie nach der Fotografie« hat die Kunst für sich erobert.
 
Red.

Universal-Lexikon. 2012.

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